Künftig sorgenfreier in die Massenentlassung? – Die mögliche Rechtsprechungsänderung im Überblick


Fehler bei der Massenentlassungsanzeige im Rahmen von Personalabbaumaßnahmen führen (noch) zur Unwirksamkeit von Kündigungen. Nun könnte das Bundesarbeitsgericht für Entlastung sorgen: Der 6. Senat möchte von der bisherigen Rechtsprechung des 2. Senats zu den Folgen formeller Fehler bei Massenentlassungsanzeigen abweichen. Zunächst ist aber (erneut) der Europäische Gerichtshof gefragt.

Der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts beabsichtigt einen Kurswechsel. Formelle Fehler bei Massenentlassungsanzeigen sollen nicht mehr zur Unwirksamkeit einer Kündigung führen.

Bisher: Anzeigepflicht als individualschützende Norm

Bei Entlassungen, die innerhalb von 30 Kalendertagen die in § 17 Abs. 1 KSchG genannten Schwellenwerte erreichen, ist ein Massenentlassungsverfahren durchzuführen. Im Rahmen dieses Verfahrens sind Arbeitgeber nicht nur dazu angehalten, den Betriebsrat über die Entlassungen zu unterrichten und mit diesem zu beraten, sondern auch die Arbeitsagentur über die beabsichtigten Personalabbaumaßnahmen zu informieren.

Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts waren Kündigungen, die im Rahmen einer Massenentlassungsanzeige ausgesprochen wurden, unwirksam, wenn im Zeitpunkt ihrer Erklärung keine oder nur eine fehlerhafte Anzeige bei der Arbeitsagentur nach § 17 Abs. 1, 3 KSchG erfolgte.

Der EuGH entschied nach Anfrage des 6. Senats mit Urteil vom 13. Juli 2023 – C-134/22, dass die Regelung des § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG nicht dem Individualschutz der Arbeitnehmer dient. Die Übermittlungspflicht diene vielmehr dazu der Behörde zu ermöglichen, die durch die Information entstehenden Probleme vorzubereiten.

Der 6. Senat nimmt dieses Urteil des EuGH zum Anlass, die bisherige Rechtsprechung zu überdenken. Er vertritt nunmehr die Auffassung, dass ein Verstoß gegen die Übermittlungspflicht an die Arbeitsagentur aus § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG die Wirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen unberührt lässt. Ein Blick auf die Entscheidungsgründe der Vorlage an den 2. Senat verrät, dass dies künftig sogar für alle denkbaren Fehler im Anzeigeverfahren gelten könnte. Das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat bleibt hingegen weiterhin Wirksamkeitsvoraussetzung der ausgesprochenen Kündigungen bei Massenentlassungen.

Da diese Auffassung des 6. Senats von der bisherigen Rechtsprechung des 2. Senats abweicht, hat er durch Beschluss vom 14. Dezember 2023 – 6 AZR 157/22 (B) angefragt, ob der 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts an seiner Rechtsauffassung festhält, dass eine im Rahmen einer Massenentlassung erklärte Kündigung nichtig ist, wenn im Zeitpunkt ihres Zugangs keine oder eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1 und Abs. 3 KSchG vorliegt.

Sollte der 2. Senat an seiner bisherigen Rechtsprechung festhalten, entscheidet der „Große Senat“ des Bundesarbeitsgerichts über diese Rechtsfrage.

Erneute Vorlage an den EuGH

Mit Spannung wurde daher die Entscheidung des 2. Senats erwartet.

Dieser hat nun mit Beschluss vom 1. Februar 2024 das Anfrageverfahren ausgesetzt und will es jetzt noch einmal genauer wissen: Er legt dem EuGH im Vorabentscheidungsverfahren weitere Fragen zur Auslegung der den §§ 17 ff. KSchG zugrundeliegenden Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung von Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen vor.

Der 2. Senat stützt sich dabei vor allem auf die Frage, ob eine Kündigung ein Arbeitsverhältnis erst nach dem Ablauf der Entlassungssperre beenden kann und ob das Ablaufen der Entlassungssperre nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraussetzt, sondern ob diese auch den formellen Vorgaben der Richtlinie genügen muss.

Bleibende Pflichten (oder Sorgen) bei der Massenentlassung

Die derzeitige Rechtslage bleibt damit erst einmal unverändert. Statt der Entscheidung des 2. Senats wird nun zunächst mit Spannung die Entscheidung des EuGH erwartet.

Für Arbeitgeber könnte die Rechtsprechungsänderung – bei entsprechender Antwort des EuGH und Entscheidung des zweiten Senats – das Risiko der Unwirksamkeit von Kündigungen bei Massenentlassungsverfahren erheblich senken. Unabhängig von der Entscheidung über die Auswirkungen einer verletzten Anzeigepflicht gilt es für Arbeitgeber trotzdem die Anforderungen an das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG einzuhalten und den Betriebsrat über die geplante Massenentlassung rechtzeitig und umfassend zu beteiligen. Bedenkt man, dass der ursprüngliche Gedanke der frühzeitigen Information der Agentur für Arbeit der Vorbereitung von Arbeitsförderungsmaßnahmen geschuldet war, erscheint ein individualschützender Charakter dieser Obliegenheit verfehlt. Dem Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat wiederum bleibt das Unwirksamkeitsrisiko bestehen, weswegen die anwaltliche Beratung bei Massenentlassungen weiterhin empfohlen bleibt.

Vielen Dank an Ardit Jusufi (wissenschaftlicher Mitarbeiter im Berliner Büro bei Osborne Clarke) für die Mitwirkung bei der Erstellung des Beitrags.